Fragmentarisches
Architekturspezifische Diskurse
Aktuelle Forschungen zur Geschichte und Theorie der Architektur
Seminar
Prof. Dr. Adria Daraban
Wintersemester 2023/24
„Über das Fragment läßt sich kaum schreiben. Es ist kein Gegenstand, es ist kein Genre, und es macht noch kein Werk. […] Das Fragment wäre demnach ein Moment der Denklust; […] das, was aus der Lust ein ‚Moment‘ macht.“ So schreiben die französischen Philosophen Phillipe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy in ihrem Beitrag Noli me frangere, erschienen 1984 in dem Sammelband „Fragment und Totalität“. Fragmentarisch können sowohl künstlerische Werke und Gebäude als auch Theorien sein. Wie das Fragment selbst erscheint auch der Begriff fragmentarisch, das Fragment entzieht sich vollständigen Definitionen oder Klassifizierungen.
Das Fragment – zugleich Abgebrochenes und Neuanfang – entfaltet in allen Bereichen der Kunst, Literatur und Philosophie stets eine ungebrochene Anziehungskraft und Präsenz. Reste, Risse, Lücken oder Brüche geben der Kunst einen neuen Ausdruck; verstummende Stimmen, abgebrochene Gesten, unvollendete Verse im fragmentarischen Schreiben, Dissonanzen, Verfremdungen und Verzerrungen verändern Klang und Bild aller Formen der Darstellung und des künstlerischen Ausdrucks. Die Auseinandersetzung mit dem Fragment als Gegenstand und Werkzeug der Theorie verhilft uns dazu, Tendenzen und Konzepte in der Architekturgeschichte aufzudecken, die sich von der Idee der Vollendung und der Perfektion lösen, um stattdessen die Fragilität der fragmentarischen Raumordnung zu entdecken und zu praktizieren. Die Erscheinungsformen des Fragmentarischen in der Architektur bleiben nicht beim Bild des Bruchstückhaften, Unvollkommenen oder Zerstörten stecken; stattdessen verkörpern sie die Idee einer offenen, ambiguen und dynamischen Raumordnung.
Wir werden in Form eines Lektüreseminars architektonische, künstlerische und literarische Strategien des Fragmentarischen untersuchen und gemeinsam diskutieren. Ein weiterer Bestandteil des Seminars sind textliche und zeichnerische Analysen von ausgewählten Bauwerken.
2 Damisch, Hubert: Der Ursprung der Perspektive, Berlin/Zürich 2010, S. 36.
