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»Wir brauchen neue Ideen für Lehrformate, die Prozesse des gemeinsamen Denkens und Machens ermöglichen.«

Prof. Dr. Adria Daraban leitet seit dem Sommersemester 2023 am fatuk das Lehrgebiet Geschichte und Theorie der Architektur (GTA). Angesichts des krisenhaften Szenarios unserer Gegenwart verändert sich das Selbstverständnis auch dieser Disziplin: Statt endgültige Aus- und Bewertungen der Architektur vorzulegen, nimmt sie „kritische Dimensionen und (Handlungs-)Möglichkeiten in der Praxis der Architektur und der Theorie“ in den Blick. Ein Gespräch über neue Anforderungen in Lehre und Forschung.

Adria Daraban, herzlich willkommen am fatuk! Ihr Lehrgebiet Geschichte und Theorie der Architektur (GTA) blickt mit mehr oder weniger großem Abstand zurück auf die unterschiedlichen Epochen und Denkmodelle der Architektur. Ich möchte Sie zur Spekulation einladen: Wie wird man wohl in fünfzig oder hundert Jahren unsere Gegenwart aus Sicht Ihrer Disziplin beschreiben und bewerten?

Diese Frage lässt die GTA geradezu als ein Orakel der Wahrheit erscheinen, was sie selbstverständlich nicht ist. Die Frage verweist aber auch auf die Pendelbewegung, die unserer Disziplin eigen ist, zwischen einem retrospektiven und einem prospektiven Blick. So gesehen, agieren Architekturtheorie und -geschichte retrospektiv, indem sie Konzepte, Hintergründe, Intentionen und Mechanismen der Raumerzeugung historisch-systematisch untersuchen und ihren Gehalt freilegen. Als ‚theoretische Praxis‘ ist Architekturtheorie zugleich eine prospektive Disziplin, die analytisch-synthetisierendes und kritisches Denken fördert. Dadurch ist sie in der Lage, Veränderungen und Neuordnungen der Praxis aufzuspüren und voranzutreiben. GTA blickt also nicht nur zurück, sondern agiert genauso im Jetzt. Um auf die spekulative Frage nach einer zukünftigen Beschreibung unserer Gegenwart zurückzukommen: Ich halte den kritischen Zugang der Architekturpraxis, -theorie und -geschichte zu sich selbst für einen zeittypischen Aspekt. Vor dem Hintergrund aktueller Problemlagen können nicht mehr nur das Denken und das Machen von Architektur im ästhetischen und im technischen Sinn bedacht werden. Die Auseinandersetzung mit sämtlichen Dimensionen der ökologischen, sozialen, ökonomischen und politischen Verantwortung des eigenen Handelns in der Architektur ist gefragt.

 

Gibt es konkrete Beispiele für die angesprochenen Problemlagen?

Heute sind kritische Auseinandersetzungen mit der komplexen Interaktion zwischen Mensch, Umwelt und Ästhetik wichtiger denn je, da sie auch den Blick auf die fragilen und fragmentierten Netzwerke zwischen verschiedenen Ökosystemen, menschlichem Handeln und Gesellschaft schärfen. In den Fokus müssen beispielsweise Fragen nach der Produktion von Raum gerückt werden: Wie wird Architektur erzeugt und unter welchen Produktionsbedingungen? Wem wird räumliche Praxis attribuiert, wer hat Zugang dazu, wer wird ausgeschlossen?

Neben den Produktionsverhältnissen von Architektur verändert sich derzeit auch unser Verständnis von Architekturgeschichte. Im besten Fall werden wir dazu angeregt, den Verlauf der Architekturgeschichte neu zu denken. Das ist jedenfalls eine der großen Herausforderungen der Lehre, verbunden mit der Frage: Welche Unterrichtsformate sind angemessen für das Lehren einer Architekturgeschichte, die dynamisch und nicht statisch ist, und welche Formate sind obsolet?

 

Als relativierende Architekturtheorie, in der Gewissheit, dass Architektur vor dreißig Jahren anders bewertet wurde, als sie es heute wird oder in fünfzig Jahren werden wird?

Das Relative hört sich zunächst nach distanzierter Beteiligung an, das ist aber nicht gemeint; Architekturtheorie und die kritische Betrachtung von Geschichte verfolgen weder die Absicht, endgültige Auswertungen vorzulegen, noch wollen sie Bewertungen über Architektur formulieren. Vielmehr eröffnen sie kritische Dimensionen und (Handlungs-)Möglichkeiten in der Praxis der Architektur und der Theorie. So gesehen ist die Praxis der Theorie auch eine experimentelle Praxis.

 

Wie verändert sich die Lehre, wenn etablierte Bewertungen in Frage gestellt sind?

Ich erlebe, dass die Studierenden einen selbstkritischen Blick auf die gegenwärtigen Problemlagen von uns Lehrenden geradezu fordern. Dieser Blick erfordert Aktualität und Hintergrund zugleich. Methodisch gesehen glaube ich an eine experimentelle Theorie, die versucht, die Trennung von Theorie und Praxis aufzulösen. Eine lediglich abstrakte und retrospektive Betrachtung von Theorie und Geschichte ist schlichtweg einseitig. Mir gefällt die Idee des Philosophen und Kunsthistorikers Hubert Damisch, der Erzeugnisse der Kunst und Architektur als „theoretische Objekte“ bezeichnete: Die Theorie dient uns als Werkzeug, um die Objekte zu lesen, und indem wir sie lesen, verändern wir Objekt und Theorie zugleich und können dadurch auch die gegenwärtige Praxis verändern. Dabei handelt es sich nicht um eine Anwendung von Theorie auf die Praxis, sondern um einen engen Austausch zwischen beiden.

Für die Lehre der GTA bedeutet dieses Verständnis von Theorie als selbstreflexive und projektive Praxis, dass sie sich einem neuen Praxiszusammenhang stellen muss. Dabei bleiben Lehrformate von dieser Revision nicht unberührt. Wir brauchen neue Ideen für Formate, die Prozesse des gemeinsamen Denkens und Machens ermöglichen. Vergangenes Jahr konnten wir im Rahmen des Zukunft Bau Pop-up-Campus in Aachen einige Erfahrungen sammeln, welche produktiven Wechselwirkungen zwischen experimentellen Formen der Ausbildung und Forschung entstehen können. Solch ein experimentelles Pilotprojekt zwischen Stadt und Universität kann ich mir auch in Kaiserslautern gut vorstellen.

In welche Richtung wird sich die Forschung in Ihrem Lehrgebiet entwickeln?

Ich möchte die Architekturausbildung als kritische und engagierte Auseinandersetzung mit den veränderten Erfordernissen der Gegenwart verstehen und beabsichtige, die diskursiven Grundlagen, die eine ‚kritische Architekturschule‘ braucht, mitzutragen und aufzubauen. Damit das gelingen kann, braucht es ein neues Repertoire an Werkzeugen für die Forschung und für die Lehre. Wir sind gerade damit beschäftigt, eine Forschungswerkstatt für den wissenschaftlichen Nachwuchs einzurichten. Daraus können und sollen Netzwerke hervorgehen, sowohl innerhalb der RPTU als auch im Verbund mit anderen Universitäten.

Meine Forschungen, Publikationen und Ausstellungen befassen sich mit Phänomenen, die an der Schnittstelle von Architekturkultur, Umwelt und Gesellschaft liegen, in einer historischen und gegenwartsbezogenen Betrachtung. Schwerpunkte sind Begriffsgeschichte und Grundlagenforschung der Moderne, Kritische Theorie sowie Fragen nach Transformativen Phänomenen und Mechanismen in der Raumpraxis. Am GTA möchte ich diese Themen fortsetzen. Vor dem Hintergrund der aktuellen akuten Umwelt- und Klimakrise stellen sich Fragen nach Ressourcenverbrauch und Bodenversiegelung, Bodennutzung und -verteilung und nach einem generationsgerechten, chancengleichen und inklusiven Zugang zum Raum als Ressource. Mein besonderes Interesse gilt der Erforschung und Entwicklung von Werkzeugen und Strategien, die es ermöglichen, in solchen transformativen Prozessen von Architektur für einen verantwortungsvollen Umgang mit dem vorhandenen und künftigen Baubestand zu sorgen.

 

In Ihrer ersten Lehrveranstaltung am fatuk untersuchen die Studierenden „Medien der Architektur“. Worum geht es dabei?

Es geht um verwandte Fragen: Wie wirken sich Problemlagen der Gesellschaft auf das Spektrum der Medien der Architektur aus? Mit welchen Mitteln artikuliert sich in der Architektur die Neuausrichtung sozialräumlicher Praktiken im Zeichen der Krise? Welche Werkzeuge – Medien, Aktionen, Apparate – sind angemessen und wirkungsvoll im Umgang mit diesen Fragen und mit den gegebenen Spannungsfeldern? Im Rahmen der Lehrveranstaltung haben wir, zusätzlich zu einer Vorlesungsreihe zum Thema, in Arbeitsgruppen die breite Masse der aktuellen Medien versucht zu sondieren, zu kartieren und zu analysieren. Wir verfolgten dabei die Absicht, die Wirkungsweise und Durchschlagskraft dieser Formen der Architekturkritik zu verstehen und sie uns anzueignen. Architekturkritik ist ein mächtiges Werkzeug, das heute mehr denn je gefragt ist. Wie ist das Verhältnis von Konformität und Abweichung der Medien, bezogen etwa auf diese Aktualität? Das Medium ist ja nicht nur ein Werkzeug, sondern auch ein Vehikel des Denkens und der Theoriebildung. Wenn wir es analysieren, erhalten wir einen Querschnitt der jeweiligen Themen einer Zeit. Und vielleicht lässt sich dadurch irgendwann in der Zukunft rückblickend eine belastbare Aussage darüber treffen, wie die Geografie der Fragen der Architekturtheorie im Jahr 2023 aussah.

 

Das Gespräch führte Nils Ballhausen

 

Die Abschlusspräsentation des Seminars „Medien der Architektur“ findet am 6. und 7. September 2023 am fatuk statt.

 

 

 

Adria Daraban hat Architektur an der RWTH Aachen studiert, wo sie 2021 mit der Arbeit „Figuren des Fragmentarischen. Architekturspezifische Konzepte des Fragmentarischen in der Moderne“ promovierte. Seit 2009 ist sie als Architektin tätig. Seit 2011 lehrt sie in den Bereichen Geschichte und Theorie der Architektur an der RWTH Aachen, TU Berlin, BU Wuppertal, Universität Kassel. 2015 hatte Adria Daraban eine Vertretungsprofessur für Geschichte und Theorie der Architektur an der HM München inne. Von 2019 bis 2021 war sie Gastprofessorin für Architekturtheorie an der B-TU Cottbus-Senftenberg. Adria Daraban ist Mitherausgeberin und Autorin der Online-Zeitschrift archimaera. 2022 war sie Chefkuratorin des BBSR Zukunft Bau Pop-Up Campus in Aachen, einer gemeinsamen Initiative des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung und der RWTH Aachen. 2023 wurde sie zur Professorin für Geschichte und Theorie der Architektur an die RPTU Kaiserslautern-Landau berufen.