Lebensraum Stadt. Aubervilliers/Gare des Mines
Im Rahmen der Abschluss-Thesis im Sommersemester 2024 haben wir uns an den nordöstlichen Rand von Paris und jenseits davon nach Aubervilliers begeben. Zwei Alternativen standen zur Auswahl. Beide liegen im urbanen Kontext, unterscheiden sich aber grundlegend voneinander: (A) Revitalisierung von Bestand im Quartier Maladrerie/ Emile Dubois in Aubervilliers, und (B) die Entwicklung einer postindustriellen Brache am Gare des Mines im 18. Arrondissement von Paris.
Wie entstand die Idee für eine Master Thesis in Paris?
Eher bei als in Paris. Zwei Gebiete standen zur Auswahl: Gebiet 1 mitten in Aubervilliers, und Gebiet 2 am „Dreistädteeck“ zwischen Paris, Saint Denis und Aubervilliers. Aubervilliers ist trotz Grenzlage zu Paris eine der ärmsten Gemeinden Frankreichs mit extrem hohem Anteil an Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Gerade dieser Kontrast zu dem, was viele mit Paris als Erstes assoziieren – Haussmann, die Photos von Doisneau, Mode usw. – ist aber natürlich spannend. Kurioserweise hat Chanel in direkter Nachbarschaft zu Gebiet 2, an der Porte d’Aubervilliers, seine neuen Manufakturen gebaut. Beide Orte boten zudem die Gelegenheit, interkommunale Steuerungsmöglichkeiten der Stadtentwicklung der öffentlichen Hand kennenzulernen. Der gesamte nordöstliche Grenzbereich von Paris entwickelt sich in den letzten Jahren rasant, jüngst noch einmal beschleunigt durch die Olympia-Planungen. Im Grunde genommen ist das aber ein Prozess, der in den 1970ern begann, als ein hier der Viehmarkt und der Schlachthof geschlossen wurde, an deren Stelle später nach Entwürfen von Bernhard Tschumi der aufsehenerregende Parc de la Villette entstand. Wir haben uns diesen Kontext gemeinsam vor Ort angesehen. Und schließlich fasziniert die Nähe zu Kaiserslautern immer aufs Neue, wenn man an der Gare de l’Est zum zweiten Frühstückskaffee aussteigen kann.
Warum sind die ausgewählten Orte relevant, was lässt sich an ihnen ablesen, worin besteht dort der Handlungsbedarf?
Kurz gesagt: In Gebiet 1, der „Stadt für 800“ des Architekten Raymond Lopez, galt es, eine Haltung zu der vernachlässigten Architektur, aber auch zu der offenen städtebaulichen Komposition mit den großzügigen Außenräumen zu entwickeln; Umgang mit Bestand als zukünftig zentrale Aufgabe für Architekturschaffende. Der soziale bzw. sozialistische Wohnungsbau der 1950er liegt zwischen der revolutionären Architektur von Renée Gailhoustet und dem gerade entstehenden Bahnhof für den neuen Grand Paris Express. Ein Teil soll abgerissen und auf für uns alle unverständliche Weise nachverdichtet werden. Wie geht man mit so einem Quartier um, dem absehbar eine Gentrifizierung droht? In Gebiet 2, der Brache der Gare des Mines, war die Herausforderung quasi entgegengesetzt: auf freier Fläche und umgeben von großmaßstäblichen Infrastrukturen ein zukunftsfähiges Quartier zu entwerfen – unter Integration einer kulturellen Zwischennutzung im kleinen ehemaligen Bahnhof. Und zwar ein Quartier, das sich von den überall um Paris herum entstehenden grauenvollen Neo-Art-Déco-Quartieren unterscheiden sollte. Existierende Planungen sehen hier große Blöcke mit viel Büroflächen vor.
Wie verlief die Bearbeitungsphase? Gab es dabei besondere Herausforderungen?
Nun, natürlich habe ich mich auch gefragt, ob es so gut ist, eine so urbane Aufgabe zu stellen, wo sich doch in unserer ländlichen Region auch so viele Themen anbieten. Aber ich halte die Auseinandersetzung mit Urbanität für angehende Architekturschaffende für essentiell. Dennoch, ich muss zugeben, dass die Aufgabe 2 „Gare des Mines“ im Rückblick für viele zu großmaßstäblich war. Das habe ich unterschätzt. Hinzu kamen ortsspezifische Herausforderungen wie die räumliche Schwellenwirkung des Boulevard Périphérique. Es gab aber noch zwei ganz andere erschwerende Faktoren: die Folgen der Pandemie und die Neubesetzung des ehemaligen Lehrgebiets Stadtbaukunst in der Zeit, als diese Kohorte studierte.
Rückblickend gefragt: Hätte die Aufgabe anders gestellt werden sollen?
Ich hatte empfohlen, dass man für Gebiet 2 den offiziellen Vorentwurf übernimmt, bzw. kritisch hinterfragt und anpasst, um früher mit dem Hochbauentwurf beginnen zu können. Hätte ich geahnt, dass fast alle Absolvent:innen den Umriss freiwillig erweitern, hätte ich die Aufgabe stärker beschränkt. Aber ich wollte den unterschiedlichen Schwerpunkten der Professuren Raum geben, und das ist ja offensichtlich auch so verstanden worden. Noch etwas: Da Landschaftsarchitektur am fatuk ein freiwilliger Studieninhalt ist, kann ich hier keine Kompetenzen erwarten, aber ich wundere mich schon, dass einzelne, die ohne Vorerfahrung große Freiflächen entworfen haben, nicht das Gespräch mit mir gesucht haben. Ein letzter Punkt zur Aufgabenstellung: Ich vermute, dass mein nachdenkliches Vorwort nicht von allen so ernst genommen wurde, wie ich es meinte. Dazu hätte gehört, hinsichtlich des Anfang 2023 vom zuständigen Ministerium verkündeten Szenarios B von 4°C (sic!) Erwärmung für Paris Stellung zu beziehen.
Welche Arbeiten und/oder Konzepte der Absolvent:innen haben Sie besonders beeindruckt/überrascht/überzeugt?
Generell war eine große Offenheit der Studierenden dem vormals ungeliebten architektonischen Erbe gegenüber zu verspüren. Nicht nur mich hat beeindruckt, mit welcher Liebe zum Vorhandenen und dem sozialen Gefüge Hanna Brown sich in das Quartier eingearbeitet hat; sie hat das richtige Maß gefunden, den Bestand mit den von oben belichteten Treppenhäusern zu respektieren und doch zu verwandeln. Sie hat vor Ort Schwächen analysiert hat und ist diese dann mit angemessenem Aufwand, in hoher architektonischer Qualität angegangen – mit Gespür für die Gesamtlogik des Quartiers. Letzteres gilt auch für Alexander Warnke, der eine besonders konzeptstarke und architektonisch herausragende Arbeit vorgelegt hat, bis hin zu quasi ornamentalen Effekten, am Rand des Quartiers und mit Bezug zu einem gartenkünstlerischen Projekt von wagon landscaping, mit denen ich dieses Semester auch kooperiere. Auch Ann-Kathrin Eckthaler konnte mit einer konsequenten Durcharbeitung und Aufwertung des Bestands mit besonderem Blick auf Ressourceneffizienz und soziale Interaktion überzeugen. Azadeh Khoshbakhty Vayghan hat ein Händchen für städtebauliche Proportionen bewiesen und den für mich interessantesten Vorschlag für eine Nachverdichtung vorgelegt.
Die Fragen stellte Nils Ballhausen.
Die Abschlusspräsentationen der Diplom/Master Thesis fanden vom 14. bis 16. Oktober 2024 am Fachbereich Architektur der RPTU Kaiserslautern-Landau statt.