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»Kreislaufdenken steckt in jeder Bauweise und in fast jeder architektonischen Epoche – diese Vielfalt sollten wir wiederentdecken.«

Seit dem Sommersemester 2023 ist Eva Stricker Juniorprofessorin für Kreislaufeffektive Architektur am fatuk (Fachbereich Architektur der RPTU). Auf ihren Namen stieß man zuletzt immer öfter, wenn es in Fachpublikationen um „Zirkuläres Bauen“ ging. Das vielbeachtete Pilotprojekt K.118 in Winterthur/CH, das Eva Stricker wissenschaftlich begleitete, gilt als wichtiger Meilenstein in der Entwicklung einer professionellen Wiederverwendung von Bauteilen. Ein Gespräch über Ursachen und Folgen des aktuellen Paradigmenwechsels im Bauen.

Eva Stricker, herzlich willkommen am fatuk. Wie kamen Sie eigentlich zu dem Forschungsthema Wiederverwendung von Bauteilen? Gab es in Ihrem Berufsleben als Architektin vielleicht eine Art Erweckungserlebnis, das die herkömmliche Baupraxis in Frage gestellt hat?

Sicher habe ich als Studentin und Architektin auch an Projekten gearbeitet, die ich heute mit anderen Augen betrachten würde. Aber diesen speziellen Moment einer Kehrtwende oder gar einer Läuterung kann ich nicht ausmachen. Das Bewusstsein für die ökologische Notwendigkeit eines grundsätzlichen Umdenkens im Bauwesen ist bei mir, wie bei den allermeisten, in den letzten Jahren unter dem Eindruck von Klima- und Ressourcenkrise sukzessive gewachsen. Zum Forschungsthema Bauteilwiederverwendung bin ich eigentlich aus einer anderen Richtung gelangt.

 

Und zwar wie?

Das Thema hat mich schon im Studium besonders fasziniert, ich arbeite seither bevorzugt an und mit dem, was schon da ist. Zunächst allerdings weniger aus ökologischer Überzeugung, sondern einfach deshalb, weil ich darin besonders relevante, vielschichtige und ergiebige entwerferische Fragestellungen sehe. Als das Baubüro in situ den Experimentalbau K.118 auf dem Campus der ZHAW zu entwickeln begann, fragten sie das Institut Konstruktives Entwerfen, ob wir das Projekt wissenschaftlich begleiten wollen – der Planungs- und Bauprozess sollte im Auftrag der Bauherrschaft dokumentiert und ausgewertet werden. Das war 2018. Die Idee, ein Haus aus wiederverwendeten Bauteilen zu bauen, hat mich damals sofort begeistert, allerdings hatte ich dabei erst einmal eher Bilder von Hermann Czechs „Kleinem Café“ oder dem „Hexenhaus“ der Smithsons im Kopf, als Treibhausgasemissionen. Nach wie vor interessiert mich das Wiederverwenden und Weiterbauen vor allem auch als architektonisches Thema. Im Verlauf der Fallstudie K.118 kamen jedoch Fragen hinzu, wie sich das Bauen mit gebrauchten Bauelementen unter den aktuellen Bedingungen der Bauwirtschaft überhaupt organisieren lässt und wie sich diese Arbeitsweise auf die ökonomische und ökologische Bilanz des Bauens auswirkt.

 

Mir scheint, dass das Bauen im Bestand in den letzten Jahren einen höheren Stellenwert bekommen hat, wohingegen spektakuläre Neubauprojekte an Strahlkraft verloren haben, weil die ökologischen Aspekte heute mehr ins Gewicht fallen. Programmatische Umbauten wie die Transformationen von Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal konnten die Aufmerksamkeit zurück auf dieses Feld lenken.

Das ist ein wesentlicher Aspekt des Paradigmenwechsels, mit dem wir es heute zu tun haben: dass sich der Blick auf den Bestand verändert. Dafür gibt es neben dem wachsenden Bewusstsein für ökologische Zusammenhänge auch kulturelle Gründe. Zur Zeit des Wiederaufbaus galt es in Deutschland, angesichts kriegszerstörter Städte möglichst schnell viel günstigen Wohnraum zu produzieren. In Verbindung mit dem Wirtschaftswachstum und der zunehmenden Industrialisierung des Bauens in den anschließenden Boomjahren galt das Planen und Bauen „auf der grünen Wiese“ lange Zeit als Normalfall. Gegenwärtig erkennen wir die Schattenseiten dieser Entwicklung und streben vermehrt nach innerer Verdichtung – das verleiht der Auseinandersetzung mit dem Bestand ganz neues Gewicht. In der Schweiz gilt bereits seit einiger Zeit der Grundsatz der Innenentwicklung. Neben vielen positiven Aspekten dieser Politik geraten so allerdings immer öfter auch Bestandsbauten unter Druck, die das Ende ihrer Lebensdauer eigentlich noch lange nicht erreicht haben. Die Frage „Erhalten oder ersetzen?“ stellt sich hier andauernd. Dass sie sehr oft mit „ersetzen“ beantwortet wird, wird zwar oft mit möglichen Energieeinsparungen im Betrieb begründet. Ausschlaggebend sind aber in aller Regel wirtschaftliche Faktoren.

 

Das Schreddern und Entsorgen von Substanz scheint gegenwärtig wirtschaftlicher zu sein als ihr Erhalt. Aber vielleicht haben wir auf die Gesetzmäßigkeiten des Marktes zu wenig Einfluss…

Da bin ich etwas zuversichtlicher. Es war wirklich eindrucksvoll zu sehen, wieviel das Projekt K.118 in der Schweiz angestoßen hat. Allein die Feststellung, wieviel Treibhausgasemissionen man durch die Wiederverwendung von Bauteilen tatsächlich einspart, hat viele überrascht. Die Wiederverwendung wird seitdem nicht mehr nur als Nischenthema für Liebhaber diskutiert, sondern als legitimer Ansatz, der uns auf dem Weg zu „Netto-0“ weiterbringen kann. Das verändert auch die Fragestellung: Zu Beginn der Fallstudie stand die Untersuchung im Vordergrund, ob und wie ökonomisch die Arbeit mit wiederverwendeten Bauteilen innerhalb der heutigen Strukturen des Bauwesens überhaupt möglich ist. Jetzt geht es vermehrt darum zu fragen, an welchen Stellschrauben wir drehen müssen, damit eine so sinnvolle Praxis ökonomisch wird.

 

Welche könnten das sein?

Die graue Energie des Bestands müsste grundsätzlich in die ökonomische und ökologische Bilanzierung von Gebäuden miteinbezogen werden. Ein angemessener Preis für Treibhausgasemissionen würde Einsparungen durch weitergenutzten und wiederverwendeten Bestand mehr Wert verleihen. Auch im Genehmigungsprozess gibt es Handlungsbedarf. Was bereits vorhanden ist und erhalten wird, sollte als Bonus in die Bewertung einer Planung einfließen, ein Rückbau dementsprechend als Malus.

Die Weiterverwendung von Bauten und Bauteilen ist in Gesellschaften mit einer Mangelwirtschaft selbstverständlich. Wer in einer Wohlstandsgesellschaft aufwächst, ist es gewohnt, dass fast alles jederzeit verfügbar ist. Wie überzeugen Sie angehende Architektinnen und Architekten davon, künftig hauptsächlich mit dem, was schon da ist, zu planen?

Ich denke, dass der große Bewusstseinswandel eher in meiner Generation stattfinden muss. Die Jüngeren, die heute studieren, sind mit der Klimakrise aufgewachsen und kennen die Verantwortung, die sie künftig tragen werden. Eher nehme ich manchmal fast eine gewisse Ungeduld gegenüber gestalterischen, räumlichen, konstruktiven Fragen wahr. Das ist angesichts der viel zu lange ignorierten Dringlichkeit von Klima- und Ressourcenfragen verständlich. Andererseits finde ich es zentral, dass wir uns in der aktuellen Debatte nicht verleiten lassen, die Qualität von Entwürfen nurmehr an Ökobilanzen und Kreislaufkonzepten festzumachen. Auch eine günstige Ökobilanz macht aus einem schlechten kein gutes Haus. Architektonische Fragestellungen sollten weiterhin im Mittelpunkt stehen, verortet allerdings im realen gesellschaftlichen und ökologischen Kontext.

 

Wird es irgendwann eine typische „Architektur der Wiederverwendung“ geben?

Ich bin überzeugt, dass es einen sehr großen architektonischen Spielraum gibt, um mit diesem Thema umzugehen. Auch beschränkt sich kreislaufgerechte Architektur ja keineswegs auf die Wiederverwendung von Bauteilen. Vom Erhalt von Bestand am Ort über die Wiederverwendung einzelner Bauteile über die stoffliche Verwertung zu Sekundärbaustoffen bis hin zur Arbeit mit natürlichen, regenerativen Stoffen stehen vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung. Das Kreislaufdenken steckt in jeder Bauweise und in fast jeder architektonischen Epoche. Diese Vielfalt sollten wir wiederentdecken. Mein Fach Architektur und Stoffkreislauf versucht, eine breite Palette solcher Spuren aufzuzeigen. Entsprechend viele Schnittstellen gibt es mit der Baukonstruktion, der Architekturtheorie und der Baugeschichte.

 

In Deutschland sollen eigentlich jedes Jahr 400.000 neue Wohnungen gebaut werden – ein Ziel, das unter den gegenwärtigen Bedingungen als illusorisch gilt. Soll dieser Bedarf stattdessen im Bestand untergebracht werden?

Ich bin überzeugt, dass wir für diese Herausforderung den Bestand aktivieren müssen, auch wenn es ganz ohne Neubauten wohl nicht geht. Genauso wichtig finde ich es aber, die 400.000-Wohnungen-Frage anders zu stellen: Wieviele Menschen sollen untergebracht werden und welche Bedürfnisse haben sie? Denn wenn die durchschnittliche Wohnfläche pro Person immer weiter ansteigt, ist ja nichts gewonnen. Wir müssen stattdessen suffiziente Strategien finden, um angemessenen und qualitätvollen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, der den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen entspricht. In den letzten Jahren haben sich das Verhältnis von Wohnen und Arbeiten, die Art des Zusammenlebens und die Ansprüche an den eigenen Wohnraum stark verändert. Wir sollten die Bedürfnisse der Leute genauer betrachten und bei der Planung überdenken: Was bringt wirklich mehr Lebensqualität und was frisst nur Ressourcen wie Raum, Geld oder Rohstoffe? Wenn wir uns von starren Komfortstandards lösen und experimentelle Wohnformen zulassen, wird es auch besser gelingen, den Bestand für neuen Wohnraum zu erschließen. Womöglich sieht der dann etwas anders aus, als gewohnt, bietet dafür aber auch neue Qualitäten, die diejenigen, denen dieser Bestand gehört, von seinem Wert überzeugen.

 

Das Gespräch führte Nils Ballhausen.

 

 

 

Jun.-Prof. Eva Stricker (*1980) studierte Architektur an der TU Berlin und an der ETH Zürich, arbeitete seit 2007 als Architektin in den Büros von Ballmoos Krucker und Staufer & Hasler und führt seit 2017 ihr eigenes Büro in Zürich. Als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Konstruktives Entwerfen IKE der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) leitete sie 2018–2021 das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Zirkulär Bauen“, das anhand des Experimentalbaus K.118 die Wiederverwendung von Bauteilen untersuchte. Sie schreibt regelmäßig über Architektur, Konstruktion und kreislaufgerechtes Bauen und ist Mitherausgeberin des Buchs „Bauteile wiederverwenden – Ein Kompendium zum zirkulären Bauen“, das 2021 im Verlag Park Books erschienen ist.